Menschen Wölf‘ und Drachenweiber, Walpurgisnacht und stabat mater

Menschen-Wölf‘ und Drachenweiber
Das sieht schlecht aus für eine Abendveranstaltung in der
Stadthalle Ratingen. Endlich wieder Sonnenschein und
frühlingshafte Temperaturen. Noch dazu kündigt die
Wettervorhersage an, dass das gute Wetter genau zwei Tage
hält. Da kann man sich für die Gestaltung eines Samstagabends
vieles vorstellen, was garantiert nichts mit den Innenräumen
einer Stadthalle zu tun hat. Dafür sind noch erstaunlich viele
Besucher gekommen. Zu etwa zwei Dritteln sind die Stühle
besetzt. Der Konzertchor Ratingen hat zu seinem Frühlingskonzert eingeladen. Und die ihn
begleitende Sinfonietta Ratingen verabschiedet sich zuallererst mal vom Winter und begrüßt
den Frühling. „Es lacht der Mai! Der Wald ist frei von Eis und Reifgehänge. Der Schnee ist fort,
am grünen Ort erschallen Lustgesänge.“ Prächtig erklingt der Chor nach der zweiteiligen
Ouvertüre, die das Geschehen dramatisch einleitet. Dabei handelt es sich bei der Ballade Die
erste Walpurgisnacht von Johann Wolfgang von Goethe, die Felix Mendelssohn Bartholdy als
Kantate vertont hat, eher um eine lustige Begebenheit. Heiden, von Christen im Harz
festgesetzt, kämpfen darum, ihre Frühlingsbräuche feiern zu können. Sie veranstalten einen
gewaltigen Mummenschanz, schlagen damit die Christen in die Flucht und können so ihren
Gottesdienst feiern. Mendelssohn konzentriert sich bei der Vertonung nicht auf den Humor
der List, sondern beschreibt musikalisch eher „Menschen-Wölf‘ und Drachen-Weiber, die im
Flug vorüberziehen! Welch entsetzliches Getöse!“. Nun, vom Getöse sind Chorsänger und
Solisten dann doch weit entfernt.
Vielmehr werden hier in selten erlebter Balance sämtliche
Tiefen der Musik ausgetragen und vorgeführt. Thomas Gabrisch,
Leiter des Konzertchores, hat eigens zu diesem Werk eine
Neuerung eingeführt. Er hat den Videokünstler Moritz Hils
beauftragt, ein in dieser Weise vorgetragenes vollkommen
eigenständiges Werk um eine Video-Licht-Installation zu
ergänzen. Hils zeigt auf einer schmalen Projektionsfläche hinter dem Chor Mond-, Blumenund
Augenbilder mit vorüberziehenden Wolken. Selbst wenn es aussagekräftigere Bilder
wären: Der musikalische Vortrag erlaubt in seiner Stärke keine visuelle Ablenkung. Was dem
jungen Künstler allerdings hervorragend gelingt, ist seine Lichtintervention. Hier schafft er mit
geringsten Mitteln eine Dramaturgie, von der man sofort weiß: Das hat hier gefehlt. Und das
nachfolgende Stück wird ihm gleich noch Recht geben. Vorerst aber gibt es drei, vier
atmosphärische Lichtwechsel, die der Szenerie ausgesprochen gut zu Gesicht stehen. Und
wenn Bariton Konrad Jarnot mit großer Stimme zum Schluss kommt, die jeden in den Bann
zieht, ja, fast schon wagnerische Ausmaße annimmt, die letzten beiden Zeilen der Ballade
zitiert – „Und raubt man uns den alten Brauch, dein Licht, wer kann es rauben?“ – blendet Hils
weißes Licht in zunehmender Intensität ins Publikum. Einfach großartig.
Eine halbstündige Pause sorgt für
ausreichenden Abstand zwischen
den beiden Werken des Abends.
Auch wenn die Erste Walpurgisnacht
u n d Stabat Mater von Gioachino
Rossini etwa zur selben Zeit
entstanden sind, könnten sie kaum
unterschiedlicher sein. Wurde
Mendelssohn zu viel Ernsthaftigkeit
vorgeworfen, war es bei Rossini ein
zu geringer kirchlicher Bezug. Bei
Kirchenaufführungen von Stabat
Mater bemüht man sich, den
kirchenmusikalischen Aspekt in den
Vordergrund zu stellen – in Ratingen bemüht sich Gabrisch, die operesken Feinheiten
herauszuarbeiten. Und das gelingt hervorragend. Neigen Kirchenchöre dazu, zu Gott
aufzubrausen, gelingt es Gabrisch auch hier, eine schöne Balance zwischen Chor, Orchester
und Solisten herzustellen.
Neben einem absolut begeisternden Jarnot in der Ersten Walpurgisnacht zeigen auch die
übrigen Solisten eine Meisterschaft, die mit einer Stadthalle kaum mehr zu vereinbaren ist.
Bei einem Oratorium gibt es als Sänger für dich keine Chance, dich in eine Rolle
hineinzusingen. Das muss auf den Punkt sitzen. So wie bei Sabine Schneider als Sopran, bei
der die Einsätze absolut akkurat stimmen. In den Höhen glänzt sie silbern, in den mittleren
Lagen bleibt sie gut verständlich. Und besonders schön wird es, wenn sie bei „Quis non
posset contristari, piam matrem contemplari dolentem cum filio?“ mit Mezzosopranistin Elvira
Bill ins Duett geht. Die zeigt in der Kavantine Fac ut portem Christi mortem ihr ganzes
Können. Simon Robinson liefert sich als Bass mit dem Chor einen nahezu perfekten Dialog.
Auch Tenor Michael Siemon trägt zum Erfolg des Abends bei.
Der Chor bringt sich a cappella in eine Spitzenposition, zeigt aber durchgängig seine hohe
Qualität, die er inzwischen mit Gabrisch erarbeitet hat. Auch der Dirigent hat sich
weiterentwickelt. An diesem Abend entsteht der Eindruck, als habe er sich vom väterlichen
Begleiter zum entschiedenen Motivator gewandelt. Erstmals erlebt man ihn als maestro, und
das bekommt Chor und Orchester bestens.

Am Ende des Konzerts steht fest: Das war mit Abstand der beste Abend, den Konzertchor,
Sinfonietta und Solisten abgeliefert haben. Das Publikum johlt, gratuliert und erhebt sich von
den Plätzen. Diesen Genuss möchte man gegen keinen Biergarten tauschen.
Michael S. Zerban